Das 200-jährige Schuljubiläum des Lichtenberg-Gymnasiums war in diesem Jahr schon mehrfach Grund, in die Schulgeschichte zurückzublicken. Mit einer Schulleiterin – Luise Kuntz – haben sich Frauke Dettmer (bekannt durch ihre Veröffentlichungen zur Geschichte der Juden in Cuxhaven) und Gisela Schünke besonders befasst und interessante Details aus dem Leben dieser engagierten Pädagogin, die 104 Jahre alt wurde, aufgetan.
Luise Kuntz wurde 1881 als Tochter des Geheimen Sanitätsrats Dr. Carl Ludwig Rudolf Kuntz (1833-1914) und seiner Frau Hedwig Auguste Bauerhorst (1841 - ?) in Wanzleben/Bezirk Magdeburg geboren. Ihr Vater war dort seit 1868 königlicher Kreisphysikus. Stets im ärmellosen Überzieher mit tief fallendem Schulterkragen, Schirm und Kneifer am schwarzen Band, wurde er als Original wahrgenommen. Er machte sich nicht nur als Arzt einen Namen, sondern auch als Verfasser medizinischer, botanischer und landeskundlicher Schriften. Eine seiner Publikationen galt zum Beispiel der Beschaffenheit von Schulmöbeln zur Vermeidung von Haltungsschäden bei Schülern.
Luise Kuntz wuchs also in einem bildungsbürgerlichen anregenden Milieu auf. Einem begabten Mädchen aus bürgerlichem Hause standen nach Ende ihres Schulbesuchs schon mehr Möglichkeiten offen als der vorangegangenen Generation. Ein Studium wäre aber zu dieser Zeit nur in Zürich möglich gewesen. So besuchte Luise Kuntz zunächst das Lehrerinnenseminar in Wolfenbüttel und erhielt nach dem Examen eine Stelle in Wanzleben. Sobald es möglich war, entschloss sie sich, ihre Ausbildung durch ein akademisches Studium zu erweitern.
Immerhin war sie schon 29 Jahre alt, als sie sich 1910 an der Universität Göttingen immatrikulierte, die nach langem Widerstand der Professorenschaft seit August 1908 Frauen zum Vollstudium zuließ. Luise Kuntz belegte die Fächer Deutsch und Französisch.
Mit dem Besuch eines Sprachkurses 1911 in Grenoble vertiefte sie ihre Französischkenntnisse. 1913 erhielt sie nach dem Examen eine Anstellung als Oberlehrerin im pommerschen Stargard. Ostern 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, begann das Cuxhavener Kapitel in ihrem beruflichen und privaten Leben. Sie unterrichtete am Lyzeum für Mädchen unter den Schulleiterinnen Meta Riecke und Dr. Helene Radeck, ehe sie selbst 1927 zur Schulleiterin berufen wurde.
Wissenschaftlich fundierte Mädchenbildung bis zum Abitur und darüber hinaus lag ihr am Herzen. Ihr eigener Bildungsweg zeigte, was Frauen erreichen konnten, wenn ihnen dieselben Bildungsmöglichkeiten wie den Männern offenstanden. Sie war streng und forderte ihre Schülerinnen. Ob Heirat für sie eine Option gewesen wäre, ist nicht überliefert. Sie hätte dann ihren Beruf aufgeben müssen. Das sogenannte Lehrerinnenzölibat wurde zwar 1919 abgeschafft, aber aus Arbeitsmarktgründen 1923 wieder eingeführt und galt in der Bundesrepublik bis 1951!
In ihre Amtszeit fiel 1930 der stattliche Neubau der nun „Mädchenrealschule und Realgymnasium für Mädchen“ genannten Einrichtung. Während die Weiterentwicklung zu einer Vollanstalt mit Abitur ganz in ihrem Sinne geplant wurde, führte die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nicht nur zum großen Bruch in ihrem Leben, sondern auch zu einem erheblichen Rückschritt der Frauenemanzipation. Im Juli 1933 verlor Luise Kuntz ihr Amt als Schulleiterin, nachdem ein Erlass verfügt hatte, dass Frauen nicht mehr Vorgesetzte sein durften. Der nächste Schlag erfolgte 1934. Unverheiratete Lehrer und Lehrerinnen mussten mit dem vollendeten 53. Lebensjahr aus dem Schuldienst ausscheiden, um Arbeitsplätze für junge Lehrkräfte freizumachen.
Damit wurde Luise Kuntz mit den Bezügen einer Studienrätin, nicht einer Schulleiterin, in den vorzeitigen Ruhestand geschickt, erhielt also nur eine erheblich gekürzte Pension. Kurz zuvor, im Mai 1933, hatte sie ein Haus in der Predöhlstraße erworben. Hier wohnte sie mit ihrer drei Jahre älteren unverheirateten Schwester Hedwig, die im Mai 1921 aus Wanzleben nach Cuxhaven gezogen war. Warum Hedwig Kuntz keinen Beruf ausübte, ist nicht bekannt. Sie führte den Haushalt der Schwester. Eigene Einkünfte scheint sie nicht gehabt zu haben, sodass Luise für ihren Unterhalt sorgte.
Seit ihrer Entlassung sah sie sich gezwungen, Privatunterricht zu erteilen. Zeitweilig hatte sie über 30 Schülerinnen und Schüler, denen sie Fremdsprachenunterricht in Englisch, Französisch und Latein, aber auch Musikstunden (Klavier und Geige) gab. Gisela Schünke, Abiturjahrgang 1961: „Ich weiß nicht mehr, warum meine Mutter mich ausgerechnet zu Luise Kuntz geschickt hatte, damit ich bei ihr Nachhilfestunden nehmen sollte. Fakt war, dass leider am Ende der 11. Klasse (also 1959) in Französisch ein ,mangelhaft‘ in meinem Zeugnis stand. Ich wurde trotzdem versetzt, denn das war die einzige 5. Die hatte mich aber sehr geärgert, weil ich die französische Sprache mochte. Leider hatte ich keine Ahnung von ihrer Grammatik, und das Ergebnis der schriftlichen Klassenarbeiten bei unserem Französischlehrer Herrn Kittlitz fiel für mich entsprechend aus.
Übrigens: Man schrieb damals, auch im Englischen, in der Oberstufe ,Nacherzählungen‘: Der Lehrer las eine Geschichte in der entsprechenden Sprache zweimal vor, wir mussten sie dann in Englisch oder Französisch aufschreiben. Für mich galt nun die Alternative, entweder weiter bei dem geliebten Herrn Lorberg Klavierunterricht beizubehalten oder Nachhilfeunterricht in Französisch bei Fräulein Kuntz zu beginnen. Ich entschied mich für Letzteres.
Zweimal in der Woche marschierte ich also zum Unterricht in das kleine Häuschen in der Predöhlstraße. Alle unverheirateten Frauen wurden übrigens bis in die Nachkriegszeit mit „Fräulein“ tituliert, auch wenn sie, wie damals Luise Kuntz, schon 78 Jahre alt waren.
Ich hatte einen mächtigen Respekt vor der kleinen Person, die mich mit altmodischem, selbst gestricktem Jäckchen empfing, nie etwas Persönliches sagte. Aber sie machte mich sprachlich bis Ende 1959 so weit fit, dass ich dann später im Abiturzeugnis mit einem „befriedigend“ glücklich war und mein geliebtes Französisch an der Uni Tübingen zu studieren begann. Ich habe danach fast 40 Jahre dieses Fach an einem Gymnasium in Schleswig-Holstein unterrichtet. Aber leider bin ich nie auf die Idee gekommen, Luise Kuntz aufzusuchen, um mich bei ihr zu bedanken.
Von ihrer problematischen Situation zu Beginn der 1930er-Jahre wusste ich nichts. Meine Mutter hätte ja etwas wissen müssen, denn als sie das Lyzeum für Mädchen besuchte, war Luise Kuntz dort Schulleiterin. Meine Mutter hatte keine besonders gute Erinnerung an ,Knüdl‘ – das war wohl ihr Spitzname. Denn nachdem meine Mutter, vielleicht unbeabsichtigt, auf dem Schulgelände ohne Gruß an der Schulleiterin Kuntz – oder war sie zu jener Zeit ihre Klassenlehrerin? – vorbeigelaufen war, musste sie mehrere Male grüßend wieder an ihr vorbeigehen. So sollte sie wohl das Grüßen lernen. Diese ,Erziehungsmaßnahme‘ können wir uns heute nur noch schlecht vorstellen!“
Nach Kriegsende war der Zeitpunkt gekommen, gegen die aus Luise Kuntz’ Sicht ungerechtfertigte Entlassung anzugehen und eine Wiedergutmachung zu erlangen. Schon 1946 stellte sie einen – erfolglosen – Antrag auf Entschädigung, zunächst bei der Schulbehörde in Hamburg, dann bei der Entschädigungsbehörde in Stade (Quelle: Nds. Staatsarchiv Stade). Sie sah ihre Herabstufung und dann Entlassung aus dem Schuldienst als einen Akt politischer Verfolgung unter dem NS-Regime, der zu erheblichem Schaden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen geführt hatte. In ihrem erneuten Antrag vom 23. September 1954 an die Entschädigungsbehörde berichtete te sie von der „Hetze der Nationalsozialisten“ gegen sie und ihre Schule“ und wies darauf hin, dass sie eine ganze Reihe von Zeugen nennen könne. Weiter führte sie aus, dass schon kurz vor der Machtergreifung Förster Vollrath als Vertreter Heinz Morisses (Kreisleiter der NSDAP) in der Schule erschienen sei und von ihr das Hissen der Hakenkreuzflagge verlangt habe.
Der Staatsförster Franz Vollrath, „alter Kämpfer“ der nationalsozialistischen Bewegung, war dafür bekannt, dass er überall das „Hakenkreuzbanner in feierlicher Prozession“ hisste und dabei „flammende Reden gegen das korrupte Weimarer System“ hielt. Sie habe das Ansinnen abgelehnt. Daraufhin sei es zu einem Nachspiel in der örtlichen Presse und zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen ihr und Morisse gekommen.
Der Zeitzeuge Johann Voss, viele Jahre Privatschüler von Luise Kuntz, berichtete dem Lichtenberg-Gymnasium am 8. Januar 2007, als er diesem Unterlagen aus Luise Kuntz“ Nachlass übergab, dass sie sich geweigert habe, bei Flaggenparaden das Horst- Wessel-Lied singen zu lassen. Ihr einziges Zugeständnis an die neuen Machtverhältnisse war die Mitgliedschaft im NS-Lehrerbund. Ihre politische Haltung war bekannt und der damals zuständigen Hamburgischen Schulbehörde (wahrscheinlich auch den Behörden und Personen in der Stadt Cuxhaven) kamen die gesetzlichen Änderungen entgegen, um eine unbequeme und dem neuen Staat kritisch gegenüberstehende Beamtin loszuwerden. So musste es jedenfalls Luise Kuntz sehen.
Die Entschädigungsbehörde in Stade lehnte am 27. Mai 1955 ihren Antrag ab, da es keinerlei Hinweise gebe, dass sie 1933/1934 aus politischen Gründen herabgestuft und entlassen worden sei. Diese Maßnahmen hätten damals zahlreiche Kolleginnen und Kollegen betroffen und seien aus rein wirtschaftlichen Gründen erfolgt.
Auch die Schulbehörde in Hamburg hatte Luise Kuntz’ Anträge von 1946, 1951 und 1954 auf Wiedergutmachung nach dem Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes aus denselben Gründen abgelehnt.
Zu ihrem 100. Geburtstag 1981 würdigte die Cuxhavener Zeitung Luise Kuntz in einem ausführlichen Artikel als eine der „angesehensten und bekanntesten Bürgerinnen“ der Stadt. Noch immer war sie geistig rege, hatte allerdings das Unterrichten aufgeben müssen, als ihr Gehör nachließ. Als Sprachenbegeisterte hatte sie noch spät Russisch gelernt. Und für ihre körperliche Fitness hatte sie ebenfalls gesorgt: So lange es ihr möglich war, ging sie jeden Morgen in Grimmershörn zum Schwimmen.
1984 starb Luise Kuntz mit 104 Jahren. Als eine der Pädagoginnen, die an den Vorgängereinrichtungen des Lichtenberg-Gymnasiums Entscheidendes für die Mädchenbildung geleistet haben, bleibt sie in Erinnerung. Dass sie außerdem zu den Wenigen ihrer Generation gehört, die sich durch das Nazi-Regime nicht haben gleichschalten lassen, ehrt sie in ganz besonderer Weise.
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