TRIYOU 2025:

Eine Woche, die wir nicht so schnell vergessen

Man kann im Unterricht über den Nationalsozialismus sprechen. Man kann Texte lesen, Bilder ansehen, Diskussionen führen. Aber wir haben in Kreisau gemerkt: Es ist etwas völlig anderes, wirklich dort zu stehen – an Orten, an denen Geschichte nicht „Stoff“ ist, sondern Atmosphäre.

Dass wir diese Woche überhaupt machen konnten, war angesichts der massiv gestiegenen Kosten alles andere als selbstverständlich. Umso dankbarer sind wir für die Unterstützung unseres Fördervereins, des DPJW (Deutsch-Polnischen Jugendwerks) sowie der Sanddorf-Stiftung und der Axel Springer Stiftung – ohne diese Förderung wäre TRIYOU dieses Jahr nicht möglich gewesen.

Los ging’s allerdings erst einmal mit einem Dämpfer: Schon früh morgens fiel der erste Zug aus. Willkommen im Abenteuer. (Spoiler: Die Rückfahrt setzte später noch einen drauf und wurde zum unmittelbaren Endgegner aus Verspätungen, Ersatzverbindungen, Schlangenstehen in Reisezentren und nervenaufreibender Improvisation – insbesondere, wenn es nicht alle rechtzeitig aus dem Zug schaffen…)

Dennoch ist das rückblickend alles nichts im Vergleich zu dem, was unsere ukrainischen Partner*innen mittlerweile als „Alltag“ bezeichnen müssen. In Kreisau erzählten einige von ihnen, dass sie dort zum ersten Mal seit Monaten – vielleicht Jahren – richtig schlafen konnten, weil keine Sirenen oder Explosionen drohten. Dann kam während ihrer Rückreise die Nachricht, dass, nur eine halbe Stunde vor ihrer Ankunft, im unmittelbaren Umfeld ihrer Schule eine massive Explosion stattgefunden hatte. Das hat uns – nochmal – reflektieren lassen, wie privilegiert und sicher wir hier eigentlich leben dürfen. Doch gleichzeitig verdeutlicht uns das ebenfalls, warum gelebter europäischer Zusammenhalt so unfassbar wichtig ist.

Auf unserem Weg nach Kreisau hatten wir einige Lichtblicke – sogar ganz im wörtlichen Sinn, denn bei unserem Zwischenstopp in Breslau erwartete uns ein hell beleuchteter, von verlockenden Düften durchzogener Weihnachtsmarkt – und als echtes „Mikołajki“ (Nikolaus) - Highlight konnten wir sogar das „Christmas Party – Christmas Hit List“ – Konzert, das zeitgleich im polnischen Fernsehen übertragen wurde, live vor Ort erleben.

Nach einer guten Portion Schlaf trafen wir am Sonntag dann endlich die Gruppen aus Warschau und Saporischschja. Nach unserer gemeinsamen Weiterfahrt hieß es erst einmal: Zimmer beziehen, essen, Erwartungen sammeln – Dann sofort rein in den ersten Workshop! Und ja: Anfangs ist es kurz „komisch“, mit neuen Leuten in drei (bzw. mit Englisch vier) Sprachen zu starten. Zum Glück hatten wir mit Dmytro und Daria unsere eigenen Sprachexpert*innen dabei, die uns hilfreich zur Seite standen und uns um die Erfahrung reicher machten, inwiefern Humor in vier Sprachen manchmal ganz anders funktioniert.

Ein absolutes Highlight kam direkt am ersten Abend: die Präsentationen der drei Länder. Nicht nur „Wir kommen von da und da“, sondern richtig kreativ! Die polnische Gruppe hatte ein Lied vorbereitet, die ukrainische Gruppe sogar einen ganzen Tanz – noch dazu in traditioneller Kleidung – und wir versuchten unser Bestes, unsere LiG Harmonics würdig zu vertreten und bereits einen Tag vor deren Auftritt mit Rolf Zuckowski und mithilfe ihrer mitgereisten Vertreterinnen die „Weihnachtsbäckerei“ zum Besten zu geben. Als im Anschluss daran auch noch alle ihre landestypischen Süßigkeiten auspackten und wir uns gemeinsam durch alles durchprobierten, war das Eis endgültig gebrochen. Genau solche Momente machen aus Fremden Freund*innen!

Dann kam der Teil, der uns wirklich gefordert hat. Wir bekamen Führungen über das Gelände und durch Ausstellungen zum Kreisauer Kreis, zur Familie von Moltke und zum Nationalsozialismus. Besonders hängen geblieben sind uns die Aspekte, die immer wieder den Bogen in die Gegenwart schlugen: Hate Speech, Fake News, Ausgrenzung – Dinge, die nicht „irgendwo“ passieren, sondern die auch heute, direkt vor unserer Nase, nein, in unserer Mitte, Demokratien aushöhlen – Genau das machte es so eindringlich.

Auch infolgedessen war schon die Vorbereitung auf Groß-Rosen kein einfacher „Programmpunkt zum Abhaken“. So haben wir nicht nur die Geschichte des Lagers erarbeitet, sondern uns vorher ganz bewusst gefragt, was es eigentlich heißt, wenn Menschenrechte ausgehöhlt, Gruppen entrechtet und Menschen systematisch weggesperrt werden – und warum das nicht einfach „Vergangenheit“ ist. Dazu wurden deshalb auch aktuelle Lager- und Gewaltstrukturen aufgegriffen: die Situation der Uigur*innen in Xinjiang, die erschütternden Funde von „Vernichtungslagern“ in Mexiko, und Debatten um besonders harte Abschiebehaft-Strukturen, wie ICE oder „Alligator Alcatraz“ in den USA. Das war genau der Moment, in dem aus „Geschichte“ plötzlich Verantwortung, unsere Verantwortung für das Heute wurde.

Der Besuch des Konzentrationslagers war dann der Moment, den niemand „leicht“ wegstecken konnte – weil man an so einem Ort nicht mehr so tun kann, als sei das alles nur ein Kapitel im Buch. Der Unterschied zwischen „wir sprechen darüber“ und „wir waren da“ ist unfassbar.

Als während unseres Aufenthalts auch noch aus nahe-gelegenen Minen Sprengungen zu hören – und zu spüren – waren, hat das viele von uns enorm erschreckt. Doch für unsere ukrainischen Mitschüler*innen war es wieder besonders belastend, weil diese plötzlichen Explosionen wie eine akustische Brücke in den Kriegsalltag wirkten. All das, gepaart mit den Eindrücken, was Menschen einander in Gefangenschaft antun können, und der Sorge, wie es womöglich ihren eigenen Angehörigen ergehen mag, war erschreckend. Das war so ein Moment, in dem man merkt, wie nah Geschichte eigentlich wirkt und wie sehr sie Teil von unserem Heute ist.

Nach diesem Tag war es extrem wichtig, dass wir nicht einfach „weiter im Programm“ machen, sondern das Gesehene gemeinsam verarbeiten. In gemischten Kleingruppen haben wir die Eindrücke deshalb auch künstlerisch umgesetzt – Bilder, die wir mitnehmen durften. Sie werden jetzt bei uns im Forum aufgehängt. Wenn wir sie sehen, erinnern wir uns, und wir hoffen auch euch einen Eindruck vermitteln zu können:  Darüber zu sprechen ist wichtig. Doch dort gewesen zu sein, verändert etwas.

Damit die Woche nicht nur schwer wiegt und unser kultureller Austausch nicht zu kurz kommt, haben wir aber auch fleißig gegenbalanciert: Unter anderem bemalten wir Taschen (ehrlich: unterschätzt nicht, wie sehr das verbindet – insbesondere, wenn alle Pinsel dafür eigentlich viel zu grob sind), jede Menge Sport gemacht (angefangen haben wir mit Basketball, aber sobald das Volleyballnetz stand, gab es kein Halten mehr!), gespielt, gelacht – und abends viel mehr geredet, als wir (oder unsere Lehrer*innen – die irgendwann einmal wirklich schlafen wollten. Oops!) gedacht hätten. Wir haben gemütlich am Lagerfeuer gesessen, uns bei Versuchen zunächst halb verknotet, aber letztendlich erfolgreich traditionelle Tänze gelernt sowie zum Abschluss den Schlosskeller gerockt – und all das in dem wildesten Mix aus Deutsch, Englisch, Polnisch, Ukrainisch sowie Händen-und-Füßen. It was a blast!

Aber das war nicht alles – Wir sind auch gemeinsam losgezogen. Den Start machte nochmal der Breslauer Weihnachtsmarkt, aber diesmal alle zusammen! Kulinarische Highlights waren Oscypek, ein geräucherter Schafskäse aus den polnischen Bergen, der nach dem Grillen mit Cranberries gegessen wird (ist… gewöhnungsbedürftig, aber gleichzeitig auch einen Erlebnisbissen wert), und „Kürtőskalács“, süße Baumstriezel (sowas wie ganz entfernte, schokoladenfreie Verwandte unseres Baumkuchens – im Englischen auch als „Chimney Cake“ bekannt).

Der letzte (und – Applaus hier an unsere Lehrer*innen aller drei Länder sowie der Organisatorin aus Kreisau – weil überaus spontan auf unsere Frage hin eingeplante) Ausflug nach Schweidnitz brachte die Woche dann nochmal auf eine ganz besondere Weise zum Abschluss. Dort gingen wir zuerst in die Friedenskirche – und allein die Geschichte dieses Gebäudes ist fast nicht zu glauben: Sie durfte damals nur unter extrem strengen Auflagen gebaut werden, sogar die Materialien waren vorgeschrieben – Holz, Sand, Stroh und Ton; Also alles Dinge, die schnell kaputtgehen. Und trotzdem steht sie bis heute! Mehr noch: Innen ist sie barock und erstaunlich prunkvoll – ganz im Kontrast zu allem, was man sonst bei einer evangelischen Kirche erwartet. Als solche ist sie auch Teil des UNESCO-Welterbes und gilt als eines der großen europäischen Symbole dafür, wie aus Konflikten irgendwann Versöhnung werden kann. Nach den intensiven Tagen rund um die schrecklichen Auswirkungen des Nationalsozialismus wirkte dieser Ort also wie ein bewusstes Gegenstück und bot Anlass, nicht nur beschämt zurück- sondern hoffnungsvoll und mit neuem Tatendrang in die Zukunft zu schauen.

 

Danach stiegen wir noch auf den Rathausturm; Oben, mit Blick über die Stadt bis zum Eulengebirge, alles getaucht in das Licht des Sonnenuntergangs, wurde das Ganze plötzlich zu so einen eindrucksvollen Abschlussmoment, den man besser nicht hätte planen können.

Was bleibt? Sehr viel. Neue Freundschaften – ehrlicherweise erstaunlich intensive, nach nur einer Woche. Das Gefühl, als internationale Gruppe wirklich zusammengewachsen zu sein. Und dieses Wissen, das man nicht auswendig lernt, sondern erlebt: Austausch lebt. Und Geschichte ist nicht vorbei.

  • 15.12.2025

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